Klaras Portrait

Sie war Sonntag vor zwei Wochen gefunden worden. Urlauber hatten sie am Südufer entdeckt, an den ungerührten Zweigen zweier tief stehender Schwarzerlen, die in diesem Jahre ungewöhnlich früh austrieben, beim hölzernen Skelett eines Fischerboots, das langer Zeit nicht mehr benutzt worden war. Aus der Tiefe ragten reglos schwarze Stämme empor, wie Mikadostäbe hingeworfen und so liegen gelassen, und an einem dieser Stämme hatte ihr Kleid sich verfangen, ein nagelneues Seidenkleid aus dem Zentrum von Aussee, das sie, wie sich herausstellte, im Abverkauf erworben hatte. Wie ein Schleier bauschte es sich rund um ihren Körper, weiß mit verschlungenem lindgrünem Muster, das irgendwelche Blüten und Ranken darstellte, ein Brautschleier, mit märzkaltem Seewasser getränkt, der ihr rabenschwarzes Haar wie aus Eifersucht verbarg.

Das Ehepaar aus Mannheim war im Wirtshaus gesessen, wenige Meter neben den Steinen am Hang, vor dem Forstweg, den sie vom Dorf herauf gekommen waren, der breit und mit Kies bestreut zur Gaststätte lockte, um sich wenige Meter weiter im Wald zu verlieren, als schwarzer schmaler Pfad zwischen Kiefern und Fichten. Sie hatten angeblich einen Welpen dabei gehabt, einen Terrier oder einen Irish Setter, den sie suchen mussten, als es zu dämmern begann, und den sie irgendwann an der Stelle fanden, an der Klara Neumann im Wasser lag.

 

Ich hatte sie nur aus der Ferne gekannt, wie man Leute, die ein paar Ortschaften weiter leben, kennt. War sie nicht die Tochter eines Landwirts gewesen, der mit Hilfe seiner zweiten aus der Stadt stammenden Ehefrau Klara eine Ausbildung an der Fachhochschule ermöglichte? War sie mir nicht irgendwann in Aussee aufgefallen, wo sie in einem der Vier-Sterne-Hotels ein frühsommerliches Praktikum für ihr Studium absolvierte und in weißen Servierschuhen, Bluse und Dirndl nervös ein paar Stufen hinaufgelaufen war? Waren ihre Wangen nicht gerötet gewesen, war nicht eine Haarsträhne an ihrer Schläfe geklebt, war nicht das Tablett, das sie schwankend getragen hatte, mit einem Mal abgerutscht und zur Seite gekippt, obwohl sie noch versucht hatte, ihre Haltung zu korrigieren? War es nicht fast zeitgleich wie in Zeitlupe gefallen, Klara vor die Füße, die zu Boden gestürzt war, um die Reste zweier Mahlzeiten aufzusammeln und gemeinsam mit den Scherben aufs Tablett zurückzulegen? War ich nicht an einem der Tische gesessen, die verschwenderischen Blüten der Kastanien skizzierend, die ringsum dabei waren, aufzubrechen, hatte ich nicht Plunder und Café Latte bestellt bei einem der ernst blickenden jungen Kellner aus dem Umland, die bereits Farbe in den Gesichtern hatten vom Wochenende an einem der nah gelegenen Seen?

Und was war schon damals über sie geredet worden? Dass sie es mit ihren fast dreißig Jahren noch immer nicht zu Ehemann und Kindern gebracht habe, obwohl sie doch gar nicht so unansehnlich sei mit dem dichten langen Haar, wohl von der Mutter geerbt, der gesunden Gesichtsfarbe, den kräftigen blanken, sehr weißen Zähnen? Und hatte Amanda, meine älteste Freundin, die sie kannte, weil sie gemeinsam im Reitunterricht gewesen waren, mir nicht einmal erzählt, sie sei hoffnungslos unglücklich? Unglücklich, weil ihre Ausbildung sie langweile, die sie wegen ihrer Stiefmutter aber abschließen müsse, unglücklich, weil sie in der Stadt leben wolle, weil sie Berge und Wälder und Wasser und Winter, die sich bis in den April, oft auch Mai hinein zögen, noch nie habe leiden können und nicht länger ertrage? Unglücklich, weil sie keinen Liebhaber finde, angeblich noch nie einen Liebhaber gehabt habe, und die Leute aus der Nachbarschaft über sie sprächen?

Ich hatte sie später bei einer Ausstellung gesehen, der Vernissage eines äußerst begabten jungen Schülers, der vor zwei oder drei Jahren meinen August-Kurs besucht hatte – wieder nur von fern, in Sandalen, Top und Jeans, vor einem eigenwilligen Bild namens Zwillings-Ich. Sie war so versunken vor der Leinwand gestanden, verzaubert, als gäbe es den Saal nicht mehr, in dem wir alle standen und Weingläser hielten, dass mir ihr Unglück ganz falsch erschienen war, dass ich es mir gar nicht hatte vorstellen können. Das Haar hatte sie dieses Mal aufgesteckt getragen, im Nacken ein paar Strähnen, die sich übermütig ringelten, und jetzt kam die Farbe auf Backenknochen und Wangen von der Betrachtung des Bildes, das sie so fesselte, und der Glanz in ihren Augen wohl von dem hellen Pastell.

Man hatte sie in der Nacht noch aus dem Wasser gezogen. Ihr Kleid war in den Stämmen ganz verfangen gewesen, so als wollten die Hölzer sie im See behalten, als hätten sie ihre knochigen Finger nach ihr ausgestreckt, um sie zu ergreifen und festzuhalten. Ein Dorfpolizist musste ihr die Haare abschneiden, die er angeblich als Beweismittel zurückbehielt.

Als Beweismittel?“ hatte ich Amanda gefragt. „Wozu denn als Beweismittel?“

Amanda hatte lässig die Augen verdreht und mit einer einzigen ruckartigen Kopfbewegung ihre schwarze breite Brille dazu veranlasst, von der Stirn hinunter auf die Nase zu fallen.

„Glaubst du denn, sie ist freiwillig ins Wasser gegangen?“ hatte sie herablassend zurückgefragt.

Ich hatte auf die Zeitung auf dem Tisch vor uns gestarrt, auf die Buchstaben der Meldung, die die Morgenpost brachte, ganz vorne im Chronikteil, und die sich in merkwürdig scharfer Manier vom blassgelben Untergrund des Blattes abhoben.

„Ich dachte“, entgegnete ich, „sie sei unglücklich gewesen. Hast du nicht selbst von ihrem Unglück gesprochen?“

„Ein alltägliches Unglück, oder etwa nicht?“

„Alltäglich?“

Sie hatte mit der Gabel in den Topfenstrudel gestochen, der vor ihr gelegen war wie ein geweidetes Tier, weil sie sämtliche Rosinen herausgepickt hatte, die nun merkwürdig unnütz auf dem Teller versammelt waren.

„Man vermutet, sie habe nicht Selbstmord begangen.“

„Und warum?“ Ich hatte gefragt, doch es interessierte mich kaum. Amanda war im Augenblick mit einer Liebesgeschichte beschäftigt, die sich anschickte, in Trennung und Trauer zu enden, sie benötigte Ablenkung wie andere Menschen Nahrung.

„Im Sand vor dem Holzsteg hat man Spuren gefunden, die nicht nur von Klaras Fellstiefeln stammen. Also bitte, denk nach…“ Sie hatte die Hand wie eine Dirigentin bewegt, die ein leichtes Piano in der Partitur beschreibt und weitere Gesten für überflüssig hält.

„Was meinst du?“

Sie hatte sich schwer in den Sessel zurückgelehnt und aufgeseufzt, als wäre ich schwer von Begriff. Dann hatte sie eine Punschschnitte mit Obers bestellt.

„Also wird wohl ein zweiter dabei gewesen sein!“

„Und wer?“ Mich wunderte, dass Amanda im Moment so viel aß. Sie haderte ohnehin mit ihren ausladenden Hüften, den Kilos an Bauch, Po und rückseitigen Oberschenkeln, die breiter wurden mit dem Ausmaß ihrer zwischenmenschlichen Verwirrung.

„Die Kriminalpolizei arbeitet seit Tagen daran. Sie haben noch in derselben Nacht die Spuren vermessen, es handelt sich wahrscheinlich um die Schuhe eines Mannes.“

„Verstehe.“

„Männer!“

„Man nimmt also an, sie sei ermordet worden: Jemand habe sie vom Steg gestoßen und ertrinken lassen?“

Sie hatte ihre Punschschnitte in Empfang genommen und mit spitzem weißen Zeigefinger auf die Morgenpost gedeutet.

„Ich sehe, du bist vollkommen ahnungslos. Hier bitte, lies nach!“

 

Aber ich hatte nicht in der Morgenpost nachgelesen. Ich hatte zu jener Zeit eine Menge zu tun gehabt und war bloß für knappe zwei Wochen in Aussee gewesen, um die Reihenfolge der Sommerkurse mit Alois zu besprechen, bevor ich zurück in die Hauptstadt musste. Und dann sollte mich auch noch Max besuchen, den ich seit dem Geburtstag von Tante Vera nicht gesehen hatte und der sich für meine Akte und Porträts interessierte. Er hätte mich gern selbst mit einer Arbeit beauftragt – ein Porträt, wie er großspurig angekündigt hatte, ohne Genaueres anzugeben.

Doch da Max zum vereinbarten Zeitpunkt nicht kam, rief ich noch einmal Alois an wegen der Themen der Kurse und der Aussendung der Termine an Modelle und Stammkunden. Wir waren erst am Vormittag zusammen im Café gesessen, hatten aber geplaudert, anstatt zu arbeiten. Dass Alois wenig später schon meine Wohnung wieder betrat, verdankte ich dem Umstand, dass Alois in Aussee einen Bekannten hatte, bei dem er über Mittag zu Besuch gewesen war.

Beim Eintreten warf er die Morgenpost auf die Anrichte und legte die nassen Handschuhe ab.

„Sie muss ihn gekannt haben“, rief er kopfschüttelnd aus.

„Wie bitte?“

„Klara“, sagte er. „Sie vermuten, sie habe ihren Mörder gekannt!“

„Wer?“

„Die Polizei.“

„Und wie kommst du darauf?“

„Liest du keine Zeitung?

„Nein.“

Er trat in die Wohnküche und ließ sich aufs Sofa fallen.

„War sie nicht eine außergewöhnlich gut aussehende Frau?“

Ich setzte mich neben ihn und griff nach dem Filzstift, um die Titel der Kurse auf einem Blatt zu notieren. War Klara eine außergewöhnlich gut aussehende Frau gewesen? Ich hatte sie ein paar Male beim Baden gesehen, auf einem großen roten Handtuch am Seeufer sitzend, außergewöhnlich nahe am seichten Wasser, das in klaren Aquamarintönen an ihre Füße reichte. Sie hatte ein goldenes Fußkettchen getragen, das die samtige Farbe ihrer Haut aufnahm, genau wie ihr Bikini die Farbe des Handtuchs. War sie nicht aufgestanden, eine große schlanke Frau, ins Wasser gegangen und hinausgeschwommen, mit erstaunlich kraftvollen, effektiven Zügen, zum quadratischen Steg, der in der Seemitte fixiert war, wo die Dorfjungen wilde Phantasiesprünge vollführten und die Mädchen am Rand saßen und die Beine baumeln ließen? War Klara nicht wesentlich weiter geschwommen als bloß die gemütliche Strecke bis zum Steg, um nach dreißig Minuten zurückzukehren, kaum erschöpft von der Kraftanstrengung in dem moosgrünen Wasser? Und sprach nicht die Ruhe, mit der sie geschwommen war, ihre gleichmäßigen Schritte, als sie das Wasser verließ, ihr Stehen und Aufnehmen eines zweiten Handtuchs, mit dem sie sich gelassen das Haar frottierte – sprach nicht all dies für eine tadellose Ausdauer, dafür, dass sie eine hervorragende Schwimmerin war?

„Findest du nicht, dass sie gut aussehend war?“ wiederholte Alois mit zitternder Stimme.

„Aber ja“, sagte ich beiläufig, „aber ist das so wichtig?“

Errötete er? Zog er die Schultern hoch? War da nicht ein seltsamer Glanz in seinen Augen, als er die wenigen Worte sagte? Schluckte er, wie um etwas herunter zu würgen, das da, wo es sich aufhielt, nur nutzlos und im Weg war?

„Nein“, sagte er leise, „denn jetzt ist sie tot.“

„Kanntest du sie?“

„Sie war meine Nachbarin, sie lebte gegenüber.“

 

Ich hatte sie nie in Begleitung gesehen – wenigstens nicht in männlicher Begleitung. Im roten Bikini am Ufer des Sees, aus dem man sie sonntags gezogen hatte, war sie allein auf ihrem Handtuch gesessen und hatte versonnen übers Wasser gesehen, als denke sie an etwas berückend Schönes oder als sehe sie etwas berückend Schönes, das ausschließlich sie sehen konnte, kein anderer sonst. Sie hatte alleine ihr Weinglas gehalten bei der Ausstellung meines begabten Schülers, und irgendwann letzten Frühling, als die Kirschbäume blühten, die Straßen vom Streukies des Winters gesäubert waren und über den Häusern ein zerbrechliches Licht lag, das leise die Wärme des Sommers vorwegnahm, war sie vor mir den Weg zur Kirche hinaufgegangen – alleine, in Stoffhosen und enger weißer Bluse, auf der ihr Haar lag wie sorgsam zurechtgelegt von unsichtbarer Hand für ein unbestimmtes Foto, aufmerksam geordnet und gekämmt für den Kontrast. Hatte sie nicht höflich den Pfarrer gegrüßt, während ich sie wenig später aus den Augen verloren hatte? Ging sie regelmäßig zur Kirche, oder nur so wie ich: zwei, drei Mal im Jahr höchstens, zu Ostern, zur Mette? Und was tat sie zu jener Zeit überhaupt noch hier, am Rande dieses Orts vor dem Toten Gebirge, wenn sie laut Amanda doch viel lieber in die Stadt wollte? Sie musste ihre Ausbildung längst abgeschlossen haben, ihr Praktikum beendet, die Prüfung absolviert – was hielt sie denn noch zwischen tatenlosen Bergen, zwischen Almen und Höfen auf ungeliebtem Grund?

 

Mit Amanda erschien ich bei Klaras Begräbnis. Amanda, alleine zu Hause, war langweilig, also willigte ich ein und begleitete sie. Aber als wir dann zusammen mit zahlreichen Leuten, die ich vom Sehen oder auch persönlich kannte, schweigend um das aufgerissene Erdloch standen, in das wenig später der Holzsarg gesenkt wurde, in dem die ertrunkene Klara lag, begann ich mich zu fragen, warum ich da stand. Amanda schien ernsthaft in die Trauerrede vertieft, die Klara wie eine Heilige, eine Märtyrerin darstellte, die ein namenloser Unbekannter in den Tod gestürzt hatte und von der ich nichts hatte außer den paar Bildern im Kopf, wie zufällige Schnappschüsse einer Wegwerfkamera, die das Unglück der Hauptdarstellerin nicht ungeschehen machten und schon gar nicht die Ursachen ihres Todes klärten.

Ich sah Tante Vera, die hinten an der Mauer stand, mit merkwürdig schmalen, verschwimmenden Augen, mit altem Gesicht, viel älter als neulich, in der Altausseer Villa, zu ihrem sechzigsten Geburtstag, als sie ausgelassen mit Max, ihrem Jüngsten, getanzt hatte. Sie stand an der Mauer, als gehörte sie nicht her, den Holzgriff ihres aufgespannten Regenschirms haltend, mit mageren, unsagbar weißen Händen, an denen gespenstisch hart und groß die Fingerknöchel vortraten wie zur Verteidigung. Sie trug seltsamerweise ein schwarzes Kostüm, das nahtlos in glänzende Lederstiefel überging, die, wie die Schuhe aller übrigen Trauergäste, auf der nass geregneten Erde um Klaras Grab standen. Ich dachte, als Kontrast, an die gelungene Feier, an die rot gefärbten Wangen von Tante Vera, ihren gebauschten grünen Rock, der sich mitbewegt hatte wie ein launisches Rad, als sie sich beim Tanzen drehte, an die süße weiße Torte, die ihre Schwestern gebacken hatten, an den Sekt, an den Wein, an das Lachen und Leuchten, das an jenem Tag Vera verzaubert hatte. Dann sah ich auf der Mauer ein paar Kolkraben sitzen, die aufflogen, als der Sarg gegen den Grabstein stieß, und sich drüben in den Armen der Weiden versteckten, und dachte leicht fröstelnd an das kalte schwarze Wasser, in dem Klara sonntags ertrunken war und das, wie die Fichten und Kiefern ringsum, wie die Steine, der Sand, die Schwarzerlen und Schilfhalme, noch genau so stand wie in jener Nacht vor zwei Wochen: kalt, schwarz und reglos, ohne von Klara und ihrem Unglück zu wissen.

 

Und dann dachte ich an Max, der nicht angerufen hatte. Wir gingen bereits wieder den Kiesweg hinunter, traten in die Pfützen, um nicht ehrfurchtslos zu wirken, schwiegen, berührten einander zuweilen, wenn wir zufällig mit den Armen und Händen aneinander stießen, die verlegen herabhingen und mit den Beinen Schritt hielten. Doch was flüsterte die eine der anderen da ins Ohr, irgendwo schräg vor uns, Amanda und mir, still zwischen silbergraues, hoch toupiertes Haar, das sogar noch ein Haarnetz als Stütze brauchte? Dass Klara doch entschieden zu mager gewesen sei, dass Klara bestimmt nicht ertrunken, sondern erfroren (wäre sie doch bloß nicht so mager gewesen!), dass sie ungeschickt, daher nicht imstande gewesen sei, einen Ehemann zu finden, eine Familie zu gründen, dass Klara womöglich einen Verehrer gehabt habe, man habe ihn gelegentlich an ihre Tür klopfen hören, und sei er nicht meist auf einem Motorrad gekommen? Kein Zweifel, dass Klara verzagt gewesen sei, unglücklich wegen ihrer Stellung im Dorf, dieser Fremdheit, obwohl sie hier geboren worden sei – aber sei nicht ihre Mutter schon schwierig gewesen: unvernünftig, launisch, wie sie einfach davon sei trotz bester Versorgung durch diesen rechtschaffenen Mann?

Und was hörte ich anschließend den Pfarrer sagen, zum Bürgermeister, der am Grab ein paar Worte gesprochen hatte, während schräg hinter dem Beinhaus die Fotografen standen, dazu Journalisten und Kameraleute, die den Tod Klara Neumanns wohl teuer verkauften? Sprach er nicht ungeniert vom Tage des Herrn, von dem Frevel, gerade sonntags einen Mord zu begehen? Sprach er nicht flüsternd von der Strafe Gottes, die niemals grundlos …

Ich versuchte nicht hinzuhören und fragte mich neuerlich, warum Max zuletzt nicht in meiner Wohnung erschienen war. Warum hatte er nicht abgesagt, sich nicht wenigstens entschuldigt, warum hob er nicht ab, wenn ich zu Hause bei ihm anrief?

 

„Soll ich nicht lieber die Polizei informieren?“

„Aber nicht doch“, erwiderte ich und gab Milch in meinen Tee.

„Aber sicher, er ging doch bei ihr ein und aus!“

„Warum sollte denn ausgerechnet ihr Liebhaber sie töten?“

„Weil das häufig geschieht.“ Alois erhob sich und marschierte zum Fenster, durch das ein verwirrend helles Frühlingslicht fiel und den Anflug eines unerklärlichen Kummers in seinen Zügen womöglich noch deutlicher erscheinen ließ. War da nicht zweifellos stilles Bedauern, war da nicht mehr als normale Betroffenheit über einen merkwürdigen, ungeklärten Tod?

„Mochtest du sie sehr?“

Er setzte sich wieder und fuhr sich geschwind mit den Fingern über die Augen, als wolle er ein Bild, eine Erinnerung verwischen.

„Und wenn es so wäre, hätte es doch nichts genützt.“

Ich kritzelte ein paar Einfälle zum Aquarellkurs auf einen Zettel und stellte mir Alois vor, wie er in Klara verliebt war, eine außergewöhnlich gut aussehende Frau, und der abends, wenn es dunkel war, ihren Liebhaber gesehen hatte, wie er bei Klara geklopft hatte und eingelassen wurde. Vielleicht hatten sie gelegentlich miteinander geplaudert, Alois und Klara, Zaun über Zaun, vielleicht hatte es leichte Berührungen gegeben, aus Zufall durch Klara, aus Berechnung durch Alois, der auf einmal wieder aufstand und im Zimmer umherging wie ein Boxer, dem der entscheidende Kampf noch bevorsteht.

„Ich glaube nicht, dass du dich einmischen solltest“, sagte ich, obwohl ich endlich arbeiten wollte, mit Alois, der die Brauen jetzt trotzig zusammenzog und mich abmaß mit Blicken, die mich irgendwie erschütterten, wenngleich ich nicht sicher war, aus welchem Grund.

„Aber wenn er es doch war, der Klara ermordet hat?“

„Wenn du so sicher bist, musst du wohl aussagen.“

Er sank auf die Couch zurück und hob ratlos die Schultern.

„Ich weiß nicht, ich nehme es eben an. Oder sollte es jemand vom Hotel gewesen sein?“

„Hotel?“

„Sie arbeitete in Stainach als Rezeptionistin. Ich sehe, du bist vollkommen uninformiert.“

Ich zeichnete weiter auf meinem Notizblock und sah etwas später, als Alois gegangen war und ich längst allein in der kleinen dunklen Küche saß, das Bild einer lächelnden, sehr schlanken jungen Frau, die nun doch einen Liebhaber gehabt haben sollte, etwas müde an der Rezeption eines preisgünstigen Hotels, einem Gast einen Schlüssel mit der Zimmernummer aushändigen, in olivgrüner und schwarzer Hotel-Uniform. Stellte ich mir so nun also Klara vor, Klara, der ihre Ausdauer kein bisschen genützt hatte, ihr Talent fürs Schwimmen, fürs gleichmäßige Atmen, für das Regelmaß von Kopfhaltung, Armzug und Beinstoß? Stellte ich mir so nun Klara vor, die Nachbarin von Alois, Rezeptionistin in Stainach, mit dem heimlichen Liebhaber, der so unerwartet auftauchte? Die Frau, der ein alltägliches Unglück widerfuhr, weil sie angeblich nicht lebte, wie sie leben mochte? Und dann hatte Alois an der Tür noch erwähnt – ein wenig herablassend, ein wenig sarkastisch –, dass ihr Liebhaber seit längerem ohne Arbeit gewesen sei, ein arbeitsloser Drucker, sofern er nicht irre, eine gute Bekannte habe es ihm erzählt. Wer arbeitslos sei, der töte doch leichter, der stünde unter Druck wie ein Dampfkochtopf …

 

Man habe, las ich dann doch in der Morgenpost, drei Tage, bevor ich in die Stadt zurückfuhr, die Suche nach dem Schuhträger aufgegeben. Man habe keine Verletzungen bei Klara gefunden, keinerlei Anzeichen von Gewalteinwirkung, nur etwas Sperma, relativ frisch, was jedoch nicht auf einen Mord hinweise, da mit Sicherheit keine Vergewaltigung vorliege.

Und während ich noch las, zerschnitt ein Klingelton die Stille, und ich dachte an Max, um den ich mich sorgte, obwohl ich ihn im Grunde gar nicht richtig kannte, und der vielleicht anrief, um mir endlich zu erklären, warum er zuletzt nicht erschienen war, warum er sich seit vier Wochen nicht bei mir gemeldet hatte, obwohl ich doch für ihn dieses Porträt zeichnen sollte.

Stattdessen erkannte ich Tante Veras Stimme.

„Hast du Max gesehen?“ fragte sie, ohne sich zu melden, ohne zu grüßen, ohne mich vorzubereiten, ohne zu fragen, wie es mir gehe.

„Nein“, sagte ich bündig. „Ist etwas geschehen?“

„Ja, vielleicht. Ach, ich weiß nicht.“ Ihre Stimme verlor während dieser paar Worte das vollendete Timbre, mit dem sie sonst sprach. Seit vielen Jahren sang sie Sopran im Kirchenchor, auf Anraten des Pfarrers, der ihre Stimme sehr schätzte.

„Ich …“, fing ich an und brach unvermittelt ab, weil ich plötzlich nicht mehr wusste, was ich sagen hatte wollen.

„Wir haben ihn zuletzt vor drei Wochen gesehen. Er kam Samstagnachmittag zu uns zum Kaffee, er sah richtig gut aus, vielleicht sogar glücklich. Seit zweieinhalb Wochen hat er sich nicht mehr gemeldet.“

„Hast du schon bei Nina und Anton gefragt?“

Sie seufzte in den Hörer, ein verschwimmendes „Ja“.

„Und Ludwig und Anna? Haben Ludwig und Anna ihn womöglich gesehen?“

Jetzt sagte sie nichts mehr, schwieg fast gezwungen.

„Vera?“

Und mit einem Mal schluchzte sie wild in den Hörer, wie ich sie und überhaupt noch nie einen Menschen zu irgendeinem Anlass hatte schluchzen gehört, so dass ich zurückfuhr und mich erst einmal setzen musste.

„Vera, was ist denn? Soll ich vorbeikommen?“

„Nein.“ Es klang krampfhaft. „Es geht, vielen Dank. Er hat sich doch zwei Mal die Woche bei uns gemeldet. Und außerdem sah ich ihn immer sonntags, zur Messe.“

„Dann ruf doch im Werk an.“

Wieder entstand eine sekundenlange Stille, die Vera erneut mit einem Schluchzen unterbrach.

„Das habe ich bereits“, erklärte sie tonlos.

„Und?“ Mit einem Mal begann ich, mich schrecklich zu fürchten.

„Er war mehr als zwei Wochen lang nicht bei der Arbeit. Und er hat auch nicht angerufen und sich krank gemeldet.“

Ich schluckte.

„Ich bin sicher, es gibt eine vernünftige Erklärung“, sagte ich vollkommen sinnlos daher.

Doch sie hatte schon aufgelegt, während ich saß und wartete und den Hörer ganz nutzlos an mein schmerzendes Ohr presste.

#    

Während ich den Rucksack für die Heimreise packte, dachte ich an Max, der nicht aufzufinden war, an Klara, deren Haus bald verkauft werden sollte, an Amanda, die nach Vera meine Nummer gewählt und ernsthaft erklärt hatte, sie habe nun neue Informationen über den Mord und wolle mir gerne darüber berichten. Die erklärt hatte, dass Klara einen Liebhaber gehabt habe, einen Jungen, der drüben im Holzwerk beschäftigt sei, dazu einen zweiten, einen arbeitslosen Drucker, als heimlichen, unverschämt jungen Geliebten. Die behauptet hatte, es wäre doch nur verständlich und logisch, dass der Mann aus dem Holzwerk, sobald er es erfahren habe, aus Eifersucht Klara Sonntagnacht in den See …

Dass sie mich endlich zufrieden lassen solle, hatte ich Amanda entgegen schreien wollen. Dass sie ihre Vermutungen für sich behalten solle, dass Klara laut Kripo nicht ermordet worden sei, dass Amanda in der Morgenpost nachlesen solle, irgendwo im Chronikteil, Seite sechs oder sieben. Keine grobe Gewalt, keine äußeren Verletzungen, keinerlei Aussagen durch Nachbarn oder Zeugen. Dass Max, mein Cousin, seit drei Wochen verschwunden sei, dass die ganze Familie sich Sorgen mache, ganz besonders Tante Vera, die vor Kummer geweint habe …

Doch ich schrie nicht, ich sagte nichts, ich legte einfach auf.

 

Und dann war mit einem Mal Max abgängig, offiziell abgängig und polizeilich gesucht, und der ganze Ort wusste bereits davon, bevor ich es telefonisch von Amanda erfuhr. Und auf einmal brachten alle den Tod Klara Neumanns mit der zeitgleichen Abwesenheit von Max in Verbindung, und auf einmal sollte Max Klaras Liebhaber gewesen sein, der Klara Sonntagabend in den See gestoßen hatte. Und am selben Tag stürmten uniformierte Beamte hinunter zum Fluss und zum Haus von Tante Vera, die mit rot geweinten Augen ihre Teetasse abstellte, die vom Polsterstuhl aufstand, auf die Klinke drückte, die die Männer wortlos einließ und den Schlüssel holte, um mit ihnen zur Wohnung von Max zu fahren, wo sie mit unmäßig fahrigen Fingern eine der Kommoden im Vorzimmer öffnete, in die sie hineingriff, um einen Stiefel hervorzuziehen, einen halbhohen Lederschuh mit Zippverschluss und Pelz.

Einer der Beamten griff gierig danach, drehte ihn um und las vor, was da stand, langsam, buchstabierend, vielleicht sogar höhnisch: die Nummer, die unten in die Sohle gestanzt war und die, bevor Vera bewusstlos in meine Arme sank, ein anderer in einem abgegriffenen Schreibblock notierte.

 

Und wieder begab sich die Polizei an den See, um neuerlich die Stelle am Steg abzusuchen, nach Mordwerkzeugen, Abdrücken, Hinweisen auf die Tat, die Max an Klara begangen haben sollte. Seine Schuhgröße war dieselbe wie die Größe der Stiefel, deren Spuren man im Ufersand gefunden hatte – mit einundvierzig ungewöhnlich klein für einen Mann. Die Nachbarn hatten ausgesagt, sie hätten sie gesehen: im Jänner und Februar, Klara und Max, über die weitläufigen weißen Wiesen wandernd, wo der Winter doch schneereich und kalt gewesen sei, Hand in Hand, untergehakt oder auch umarmt, den Weg entlang am Flussufer, hinauf zur alten Mühle. Und über die Ebene zwischen den eingezäunten Schwingmooren, an den Heuschobern, die wie Kohlen in den Schnee gestreut lagen, wie sie gingen, dann innehielten, einander küssten. Sie hätten sie gesehen, noch vor wenigen Wochen, wie sie lachend auf Klaras Balkon gestanden seien, an dem noch Ende Februar die Blumenkistchen hingen mit abgeblühten grauen Lavendelstauden und den Resten von Schnittlauch und Krauspetersilie, und wie sie aus langstieligen Gläsern tranken. Aber habe es nicht später auch die Schatten gegeben, vom Mondlicht an die Rückwand ihres Schlafzimmers geworfen, gegen den vorsichtig erhellten Hintergrund bizarr die Gestalten zweier Menschen hervorhebend, liegend die eine, während die andere gestanden sei und Gesten vollführt habe, die man lieber nicht gesehen hätte? Seien das nicht zweifellos Zeichen gewesen, Signale, die man rechtzeitig richtig deuten hätte müssen, die das Drama am Seeufer bereits damals vorwegnahmen?

So redeten sie, und ich dachte an Max, der im Sommer seine Stelle als Architekt verloren hatte, zu der er jede Woche mit dem Frühzug gependelt war, und seit Spätherbst im Holzwerk als Techniker arbeitete, den Vera, wie er erzählt hatte, besorgt unterstützte mit dreistelligen monatlichen Geldanweisungen. Ich dachte an Max und seine Stimmung bei der Feier, bei der ich ihn überschwänglich, ausgelassen erlebt hatte, aber irgendetwas Unsichtbares war von ihm ausgegangen, etwas Unheimliches, Fremdes, unmöglich zu Fassendes, das mich insgeheim fasziniert, aber auch abgestoßen hatte.

 

Am Morgen meiner Abreise fanden sie Max. Sie hatten einen Tag lang nach Beweismitteln gesucht, in der Gegend, wo man Klara an jenem Sonntag gefunden hatte, und gleichzeitig begonnen, nach Max zu fahnden, den sie plötzlich als verdächtig und gefährlich beschrieben. Tante Vera war selbst oben am See gestanden, schmächtig und verloren mit dem aufgespannten Schirm, den die mageren Hände so krampfhaft hielten wie damals am Friedhof bei Klaras Begräbnis. Als einer der Hunde am Westufer anschlug, war sie seufzend zusammengefahren und hatte sich umgewandt, als wisse sie seit langem, was vorgefallen war, obwohl sie es natürlich nicht wissen hatte können, denn Klara und Max hatten niemanden informiert.

Im Unterschied zu Klara lag er halb auf der Wiese, womöglich von der Strömung des Wasserfalls getrieben, der in launigen Kaskaden den Felsen herunter sprang und der, wie es schien, nur Maxs Körper erfasst und mit wenigen Stößen nach Westen gelenkt hatte. Einer seiner Stiefel hing noch lose am Fuß, und der Mann, der ihn gefunden hatte, schrie gellend herüber, dass es sich bei der Schuhgröße um Nummer einundvierzig handelte, was angesichts dieses weiteren unklaren Todes vollkommen belanglos, ja ehrfurchtslos war.

 

Der Tod ist absurd, schrieb Tante Vera etwas später, ohne jeden Vorwurf in geschwungener blauer Handschrift auf die Rückseite der Parte, die an mich adressiert war. Ist man der Natur nicht ganz schrecklich unterworfen? Ich fand in seiner Wohnung eine mögliche Antwort, ein paar Worte auf einem Zettel, der zerknüllt auf dem Tisch lag: Klara sei Maxs größte Liebe gewesen. Er könne sich nicht vorstellen, jemals glücklicher zu sein. Sei es nicht klüger, das Leben gleich loszulassen, als zu warten, dass womöglich das Glück plötzlich loslasse …?

 

Ich las die paar Sätze ein zweites Mal durch und dachte an Amanda und das Gerede der Leute. Und mit einem Mal war mir zum Lachen zumute.

Der nebenstehende Text von Mag. Ulrike Kotzina wurde 2010 von der Ernst und Rosa von Dombrowski-Stiftung (Literatur) ausgezeichnet.

[Zurück zur
Preisträgerin 2010]

 

Ernst und Rosa von Dombrowski Stiftungsfonds, A-8010 Graz,
EMail: buero@dombrowski-stiftung.at, Impressum